Irgendwas ist immer

Die Entscheidung der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, die Berichterstattung von der Tour de France einzustellen, wird breit diskutiert; das beherrschende Paradigma orientiert sich dabei zumeist an der Frage, ob und wie der Radsport noch zu retten sei – mit ähnlichem Impetus wird dann konsequenterweise auch gefordert, T-Mobile möge sein finanzielles Engagement doch bitte nach diesem neuerlichen ‘Doping-Skandal’ auch mal endlich drangeben. Dieser aufgeregte Aktionismus ist unter zwei Gesichtspunkten zu kritisieren.
Zum einen ist der moralisierenden Argumentation von ARD und ZDF der selbstgestellte Anspruch entgegenzuhalten, der eben erst in letzter Zeit die Dopingfreiheit zum höchsten und schützenswertesten Gut der Berichterstattung erhoben hat, der aber bis mindestens zum vorletzten Jahr regelmäßig und mit wachsender Begeisterung den ein Jahr lang hochgejubelten Toursieger von 1997 für seine mangelhafte Bergfahrtechnik, seine mangelhafte Vorbereitung, seinen mangelnden Willen und sein wiederholtes Verpassen des Toursiegs mit nicht enden wollenden Farbenreichtum kritisiert hat – weil eben der zweite (oder, weiß Gott, gar der dritte oder vierte) Platz nicht etwa ein zu lobender Erfolg, sondern eine Niederlage sei. Über den Umfang der Berichterstattung über andere, in den meisten Fällen – man denke dabei auch an die Aufmerksamkeitsverteilung zwischen Jan Ullrich (4.) und Andreas Klöden (2.) am Tourende 2004 – weniger erfolgreiche Fahrer ist damit noch nichts gesagt. Es ist doch so: wenn ich als Radfahrer von einer Medienöffentlichkeit wahrgenommen werden will, die nur Rekorde wahrnimmt, dann sorge ich halt dafür, daß ich die gewünschten Rekorde liefern kann. Natürlich bin ich als Fahrer damit nicht entlastet – schließlich habe ich ein regelwidriges Präparat zu mir genommen; ich habe damit aber gleichzeitig bewiesen, daß ich das System, nach dem Sportberichterstattung funktioniert, begriffen habe – und dieses System habe ich nicht alleine und auch nicht in erster Linie zu verantworten.
Zweitens und bedeutender ist aber eine andere Frage: was genau ist das eigentlich Verwerfliche am Doping? Die Frage ist dabei nicht so sehr, wem es nütze (cui bono), sondern vielmehr, wem es schade (cui malo). Zunächst schadet es dem Fahrer selbst gesundheitlich. Das ist bedauerlich, ist aber nur moralisch verwerflich, wenn es dem Fahrer von außen aufgezwungen wird; Selbstverstümmelung ist kein Straftatbestand. Es stellt sich außerdem die Frage, ob nicht Leistungssport an sich der Gesundheit eher ab- als zuträglich ist. Daneben übervorteilt ein gedopter Sportler nicht gedopte Konkurrenten, die damit ihrer Chancen auf einen ehrlich erworbenen Sieg verlustig gehen. Hier gibt es allerdings ebenfalls zahlreiche Unwägbarkeiten: ob überhaupt irgendein Teilnehmer der Tour de France nicht gedopt ist, entscheidet sich dem Augenschein nach weniger anhand der eingenommenen Substanzen allein, sondern nur in Kombination mit der Liste der verbotenen Mittel und dem ärztlich attestierten Gesundheitspass, der die medizinisch verabreichten Stoffe auflistet. Wenn die berühmten 80% der Tourteilnehmer Belastungsasthmatiker sind, wenn EPO durchaus medizinisch geboten sein könnte, weil ein Fahrer eine Nierenschwäche nachweist, dann ist die Frage nach dem Doping nur eine Frage nach der Dummheit, sich mit einem nicht verschriebenen Mittel erwischen zu lassen. Im Übrigen fängt die Ungleichheit der Mittel ja nicht erst bei der Einnahme leistungsfördernder Substanzen an: wenn eine Mannschaft, ein Einzelsportler oder wer auch immer über deutlich größere finanzielle Mittel verfügt als ein Konkurrent und sich damit in der Lage sieht, z. B. ein dreiwöchiges Höhentrainingslager durchzuführen, während der Konkurrent am Stausee vor der Haustür trainiert, sind gleiche Voraussetzungen, ist also Chancengleichheit eben auch nicht gewährleistet. Gleiches gilt, wenn ein finanzkräftiger Fußballverein Spieler nicht in erster Linie deshalb kauft, weil er sich von deren Können eine Bereicherung des eigenen Spiels verspricht, sondern weil diese Spieler dann der Konkurrenz nicht mehr zur Verfügung stehen.
All dies führt zu einer dritten Gruppe, die man als ‘Opfer’ des Dopings im Leistungssport ansehen könnte: die Zuschauer bzw. die Medienöffentlichkeit. Auf dieser Ebene haben ARD und ZDF den Verlautbarungen nach ihre Entscheidung getroffen, weil man ja den Zuschauern keinen Sport bieten könne, bei dem jedes Ergebnis auf Doping beruhe. Mit dieser Argumentation sitzen die Sender allerdings einem Mißverständnis über den Leistungssport an sich und die Berichterstattung darüber auf. Die Idee, Sport habe im Fernsehen einen tatsächlichen Nachrichtenwert, sei also quasi die realitätsgetreue Wiedergabe eines echten Kräftemessens, geht an der Realität vorbei. Wer sich vor zehn Jahren von der Tour hat unterhalten lassen, sich Ullrichposter ins Wohnzimmer gehängt hat, der sollte froh darüber sein, daß er damals eine gute Zeit gehabt hat. Kindheitserinnerungen an Weihnachtsfeste im Familienkreis werden auch nicht dadurch geschmälert, daß man später herausfindet, daß im Weihnachtsmannkostüm eigentlich Onkel Willi oder ein gemieteter Student steckte. Wer Sport im Fernsehen sieht, lässt sich unterhalten. Ob die Leute, denen er beim Berge hinauf fahren zusieht, vorher Testosteronpflaster an der Backe kleben hatten oder nur reines Mineralwasser getrunken haben, macht dabei keinen substantiellen Unterschied – solange das was er sieht spannend ist und Stoff zur Unterhaltung bietet.
Und genau diese Unterhaltung streichen ARD und ZDF ihren Zuschauern. Das ist ihr gutes Recht. Das ganze aber als aufklärerische Maßnahme zur Reinerhaltung des öffentlich-rechtlichen Sendeauftrags zu verkaufen, ist albern. Zumal, wenn das Ersatzprogramm aus Sturm der Liebe und Tiergeschichten aus dem Tierpark Hellabrunn bzw. Die Schwarzwaldklinik und Tierisch Kölsch besteht.