HH: Keine Sentimentalitäten, bitte!

Sven Regener, Meine Jahre mit Hamburg-Heiner. Logbücher, Galiani Berlin 2011, 19,95 €
Frank Lehmann ist auserzählt, sagt sein Autor. Der ist zwar im Prinzip Musiker, hat aber scheinbar Freude am Verfassen von Prosa. Über die Jahre, häufig zum Anlass von Buch- oder CD-Veröffentlichungen, gerne auch auf Tourneen oder Buchmessen, hat Sven Regener Blogs geschrieben, okkassional und zeitlich begrenzt im Auftrag diverser Websites. Stückwerk also, Feuilleton. Sowas wird meistens im Rahmen einer posthumen Werkausgabe in mühevoller Kleinarbeit aus Zeitungsarchiven zusammengesucht und fachmännisch kommentiert in Band 27, Teilband 3b, veröffentlicht.
Oder man macht es selbst. Auch schön. Zumal, auch darin sind Regeners Blogs regelmäßigen Zeitungskolumnen nicht unähnlich, Motive und Figuren immer wieder, besser: immer mal wieder, ungeachtet der Medienwechsel, auftauchen und sich in das Textgeschehen einmischen. Regeners Nemesis hört dabei auf den Namen Hamburg-Heiner und nimmt sein Mitspracherecht bevorzugt telefonisch wahr.
Gesabbel auf hohem Niveau. Und wenn Frank Lehmann schon fertig ist wenigstens eine Abwechslung.

Typisch

Ralf König, Prototyp, Rowohlt 2008
Ralf König, Archetyp, Rowohlt 2009
Ralf König, Anityp, Rowohlt 2010

Erstaunlich, wie ermüdend Provokation manchmal sein kann.
Denn es spricht ja nix gegen Religionskritik. Oder Bibelkritik. Und es spricht auch nix gegen ein re-telling biblischer Geschichten, ein vom Text abweichendes Nach- und Neuerzählen.
Unredlich ist es, aus dem, was man gerade bewußt und explizit anders als der Text erzählt hat, Rückschlüsse oder Folgerungen zuungunsten des Textes abzuleiten. Wenn laut Bibel Noah ein töfter Kerl war, der als Einziger aufgrund seiner Töftigkeit nicht untergehen soll, dann ist das die eine Geschichte – die man kritisieren kann. Oder man erfindet einen Parallelnoah, der ein talibanesker Irrer ist, und der den eigentlich eher indifferenten Gott zur Sintflut nötigt – was als Parallelfiktion unterhaltsam oder auch instruktiv sein kann.
Aus dem, was man gerade im Widerspruch zum im Text Gesagten erfunden hat, sollte man aber keine Argumente gegen den Text ableiten.
Gelungener ist der dritte Teil der Trilogie, der sich mit Paulus beschäftigt und sich dabei tatsächlich mit dem, was Paulus gesagt und geschrieben hat, auseinandersetzt. Daß der Autor dabei großen Anstoß an Paulus‘ Meinung zur Homosexualität nimmt und diese deswegen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt ist zwar etwas einseitig, aber vertretbar.
Eine wirklich provozierende, argumentative Auseinandersetzung mit Kritikwürdigem wäre sicher spannender, wäre aber wohl von einem Comic zu viel verlangt.

Die Kakadu-Identität

Sascha Lobo, Strohfeuer, Rowohlt Berlin 2010, 18,95€
Vielleicht ist es Ironie. Der Umschlag des Buches ist himmelblau und das untere Drittel nimmt ein Foto der Haare des Autors ein. Die sind rot und stehen nach oben hin ab. Und drüber steht der Titel des Buches. Strohfeuer. Und noch weiter oben steht der Name des Autors, dahinter ein Doppelpunkt. Was auch immer der da macht. Auf jeden Fall scheint die gedankliche Verbindung des Titels mit der optischen Erscheinung des Frisursurrogats beabsichtigt. Und vielleicht soll der Doppelpunkt auch den Autorennamen in diese Beziehung mit aufnehmen. So daß dann das Phänomen Sascha Lobo insgesamt mit dem Begriff Strohfeuer und seinen Assoziationen in Verbindung gesetzt würde. Vielleicht ist das Ironie.
Auf jeden Fall aber ist es Teil einer breit angelegten Corporate Identity. Die Coverfrisur stimmt mit dem Autorenbild der Umschlagklappe überein, ebenso mit dem Profilbild des Lobo’schen Twitteraccounts. Seine Website weist ebenso dezent auf die Existenz des Buches hin wie dem Vernehmen nach auch des Autors Automobil. Dagegen spricht nicht das Geringste. Aber es sorgt nicht unbedingt dafür, daß die Wahrnehmung des Lesers von der Person des Autors weg, hin zur Romanhandlung und den handelnden Figuren gelenkt wird. Weil, wenn der Kopf des Autors – oder markante und wiedererkennbare Teile desselben – auf dem Buchumschlag zu sehen sind, kaum jemand von einem rein fiktionalen Werk ausgehen wird. Zumal dann, wenn sich Motive der – im Fall Lobo ebenfalls gern kommunizierten – Lebensgeschichte mit dem Buch in Einklang bringen lassen. Trotzdem klagt Lobo der taz sein Leid über schlechte Kritiken allgemein und die Gleichsetzung des Protagonisten mit dem Autor – oder eben wiederum mit dessen öffentlicher Kunstfigur. Aber ach! Daß Autor und Icherzähler nicht identisch sind (noch nicht einmal in autobiographischen Texten, aber das gehört nicht hierher) weiß eigentlich jeder, der Bücher bespricht. Daß andererseits der Autor auf dem Cover die Fiktionalität in Zweifel ziehen kann und außerdem die Neugier auf echte Kolportage häufig größer ist als diejenige auf gut Ausgedachtes, ist ebenso naheliegend.
Wie dem auch sei. Worum gehts? Der Protagonist lernt zur Jahrtausendwende einen großfressigen Werbefritzen kennen, der in Neue Medien macht, macht kurze Zeit später mit diesem und Anderen eine Werbeagentur auf und eine Dotcomblase später pleite. Zwischendurch bescheißt man gemeinsam Kunden und eigenständig einander, man stellt Personal ein, das man später loswerden muß, man schafft technisches Gerät an, daß man später dem Insolvenzverwalter abluchst und man lebt leidlich promiskuitiv durch die Gegend. Das mag den Zeitgeist und das Lebensgefühl der beschriebenen Zeit treffen, aber es ist über weite Strecken nicht nennenswert spannender als Marienhof. Und das ist genau die Sache mit der erwähnten Klage des Autors über die viele Kritik. Es mag sein, daß der durchschnittliche Feuilletonredakteur von Lobo und dem, was er sagt und wie er es sagt, herzlich genervt ist. Und es mag auch Kritiken geben, die die Kunstfigur Lobo und ihr Gehabe kritisieren, und deren mediales Auftreten auf das Buch, seine Handlung und seine Figuren projizieren. Das schließt aber eben nicht aus, daß auch berechtigte, weil eben auf die literarische Qualität sich beziehende Kritik gibt.
Oft zitiert, zu Lobos Vor- wie Nachteil, wird eine Szene des ersten Kapitels, die sprachlich und inhaltlich tatsächlich unbeholfen bis lächerlich ist:

Die beiden verschwitzten Girls umarmten sich und versanken in einem Zungenkuss. Ich drückte mich dazu, als schon ein paar feuchte Kleidungsstücke auf dem Boden lagen, und wurde ohne größeren Widerwillen aufgenommen. Wir gerieten ins Vögeln.

Das ist so weit jenseits der Albernheitsgrenze, daß man sich immer wieder fragt, ob das wirklich ernst gemeint sein kann. Oder ob bereits durch die Sprache des Icherzählers dessen mentale und moralische Unzulänglichkeit entlarvt werden soll. Wie es die Figurenrede in jedem Fall tut, beispielsweise nur wenige Zeilen später:

„Fuck!“, sagte ich.
„Allerdings!“, sagte Sandra.

Man muß Sascha Lobo nichts Böses wollen, um den Roman für literarisch mittelmäßig zu halten. Man muß auch nicht davon ausgehen, daß es sich um einen Schlüsselroman handle. Man muß ihm aber auch keinen Welpenschutz gewähren, weil das ja schließlich sein erster Roman sei. Wenn man es als Literatur, als Belletristik liest, dann wird man kaum umhin können, stilistische Unebenheiten festzustellen, die meisten Figuren für Pappkameraden ohne erkennbare Charakterzüge zu halten und vor allem auch bei den wichtigsten Protagonisten das Fehlen von Charakterentwicklung und Tiefenschärfe zu vermissen.
Vielleicht ist das Absicht, vielleicht will der Autor uns die Figuren nicht als empathisch nachempfindbare Personen erscheinen lassen, sondern als charakterlose, oberflächliche Pappnasen. Indem es dem Leser greifbare, plastische Figuren vorenthält, bietet das Buch sich vielleicht zum schnell weglesen, kaum aber zum Wiederlesen an.
Vielleicht ist es aber auch Ironie.

Altes aus Wolfenbüttel · III

z. B. Veit Dietrich, Summaria Uber die gantze Bibel / Darinn auffs kürtzte angezeiget / was dem gemeinen Mann / auß allen Capiteln / am nötigsten zu wissen ist. (hier Ausgabe von 1576), Summa zu Hld 3,6:

Disen Text haben die Papisten sehr getrieben / unnd auff die Jungkfrawen Marien gezogen / Aber es reimet sich eben / wie ein faust auff ein aug. Man ist aber dergleichen deutung / bey den Papisten nicht ungewohnet

Ich würd ja denken, wenn heute einer sagt, es passe etwas wie Faust auf Auge (oder eben synonym wie Arsch auf Eimer), meint er, das passe gut. Das scheint Herr Dietrich anders zu sehen.

Altes aus Wolfenbüttel · II

Ich bin ja ein großer Freund der gekonnten Polemik. Hier z. B.:

Daß wir aber das Salve regina habenn abgethan / das seind dyse ursach.
Zum Ersten Das es ain unnöttig gesang ist.
(…)
Zum Dritten / das es nicht vier hunndert Jar alt ist.
Zum Vierdten / das es auch hie ein newlich gestifft ding ist / unnd wie gut Christen sein gewest ehe man das gestifft hat so mögen auch noch gut Christen sein / wann es undter wegen pleibt.
(…)
Ob aber yemant wölt sagen / mann solt die wort geendert haben / wie auch anderßwo beschehen / habenn wir auß zwayen ursachen nit wollen thun.
Zum ersten. Daß die maynung nichts dester minder imm volck were bliben / welchs die endrung nit gemerckt würd haben Dann jr vil / so es Teutsch können / und das Latein nichtt versteen / hetten nicht annders künnen wissen / dann es were noch unverruckt bliben / und wern also durch unns inn jrem unglauben gesterckt und befestigt worden.
Zum Andern. Wann wir aines yeden Gotlosen menschen gesang nicht allain bessern / sondern auch ewig singen solten / besorgten wir / es würd unns der mühe unnd arbayt zuvil machen.

(Andreas Osiander, Grund und ursach auß der hayligen schrifft wie und warumb, die Eerwirdigen herren, baider Pfarrkirchen S. Sebalt und sant Laurentzen Pröbst zu Nürmberg, die mißbreüch bey der hailigen Messz, Jartäg, Geweicht Saltz, und wasser, sampt etlichen andern Ceremonien abgestelt und erlassen unnd geendert haben. Nürmberg 1525)