Nuhr nich’ komisch

Dieter Nuhr, Wer’s glaubt, wird selig, rororo 2007, 9,90 €
Dieter Nuhr ist mit etwas gutem Willen etwa 3 Minuten lustig und genau deshalb ist der ideale Fernsehscherzkeks. Warum man sich aber stundenlange DVDs oder CDs oder was von ihm angucken oder -hören oder was soll, bleibt zumindest mir verschlossen. Und das gilt in weitaus größerem Maße für Bücher. Vom ersten rororo-Sachbuch wurde an dieser Stelle bereits berichtet, allein es hat nicht genug sein sollen – zumal man sich bezüglich dieses ersten Opus eines “sensationelle[n] Erfolg[s]” rühmt, der “monatelang die Bestsellerliste” angeführt habe. Und das ist ja, vollkommen unabhängig davon, ob man noch etwas zu sagen bzw. schreiben hat, Grund genug für ein nächstes Buch.
Der Autor selbst freilich gibt als Entschuldigung für sein Tun an, er wolle darlegen “woran der Mensch glaubt, und warum er so bekloppt ist, den ganzen Krempel nicht gleich als Humbug zu erkennen” (S. 5). Ein Aufklärer also. Allerdings ein komischer. Nun ging es der Aufklärung ja nicht nur und erst recht nicht in erster Linie darum, sich über den Blödsinn, den die Leute so glauben, lustig zu machen, sondern, darauf hinzuweisen, was für ein Schindluder mit diesem Glauben getrieben wird, wie dieser Glauben politisch genutzt wird. Verlachenswert ist in diesem Sinne nicht der Glaube den Einzelnen an sich – und sei es nur, weil jeder das Recht auf seinen eigenen privaten Dachschaden hat. Und über den zu lachen und sich lustig zu machen ist nicht aufklärerisch, sondern billig und kindisch. Angebracht ist das Veralbern als subversiver Akt erst da, wo Glaube die Freiheit oder das Wohlergehen anderer beeinträchtigt. Daß es nämlich keine gute Idee ist, jemandem aus Glaubens- oder Religionsgründen den Schädel einzuschlagen ist so richtig wie allgemein bekannt. Schön, daß es auch Herr Nuhr nochmal betont: “Aber vielleicht sollte man dann wenigstens unterlassen, sich vor lauter Glauben in die Luft zu sprengen [und] Andersgläubige zu verachten (…)” (S. 189). In dieser Verengung nur auf den Bereich des Glaubens liegt aber die Implikation, daß es außerhalb dieses Bereichs durchaus eine Reihe Gründe gäbe, die sehr wohl zum Schädeleinschlagen berechtigten oder aufforderten. Und daß ist ja mindestens genauso großer Unfug. Verwerflich an religiös motiviertem Totschlagen ist nämlich nicht die religiöse Motivation, sondern das Totschlagen.
Aber aber, mag man hier einwenden, der gute Herr Nuhr will doch nur witzig sein. Nun denn, gucken wir uns einen diesbezüglichen Versuch mal an:

“Auch die Puppenstunde auf QVC war immer ein großer Renner. Leider war nicht rauszukriegen, ob es die Sendung noch gibt, da meine Programmzeitschrift über zentrale Fragen des Lebens nicht informiert. Aber wer einmal ein lebensechtes Porzellanbaby erstanden hat, hält ein derart entzückendes natürliches Stück in seinen Händen, dass eine Schwangerschaft praktisch als überflüssiges Übel empfunden wird.Auf Dauer wird die Menschheit wahrscheinlich ohnehin durch Künstlerpuppen ersetzt. Die Dinger sind jedenfalls angeblich immer gleich ausverkauft. Wahrscheinlich wird die Erde irgendwann nur noch von Porzellanpuppen bevölkert sein. Menschen, die bei QVC Puppen kaufen, haben ohnehin keinen Sex. Das ist zwar wissenschaftlich nicht belegt, aber alles andere würde meine Vorstellungskraft sprengen.” (S. 67)

Witze über QVC gehören seit Jahren zum Rüstzeug jedes Komikers und sie werden durch Wiederholung nicht besser. Vor allem aber sagt Nuhr seinen Lesern garnicht, was denn eigentlich so komisch an Verkaufsfernsehen ist. Der Leser muß also schon wissen, warum es sich bei diesem Sender um eine alberne Veranstaltung handelt, so daß allein die Namensnennung schon Gelächter provoziert – ungefähr so, wie Pubertierende bei jeder Erwähnung des Wortes Sex zu kichern anfangen. Mit Komik hat das wenig zu tun, eher mit dem Versuch der Publikumsdressur. Das einzig halbwegs originelle, das uns Herr Nuhr in diesem Absatz zu sagen hat, sagt er da vorsichtshalber lieber gleich zweimal. Und weil es so lustig war, wendet er sich am Absatzende nochmals dem QVC-Bashing zu, indem er jetzt auch explizit nochmal dessen Publikum beschimpft. Wen zu verachten, weil er die Falschen Fernsehsender guckt, scheint also OK zu sein.
Wenn dieses Buch also weder schlau noch witzig ist, taugt es wohl tatsächlich nur dazu, erneut die Bestsellerlisten zu verblöden.

Praktische Redewendungen und defektive Verben der dritten Person

Armin Hetzer/Zuzana Finger, Lehrbuch der vereinheitlichten albanischen Schriftsprache, Helmut Buske Verlag 2007, 26,80€
Monika Skibicki, Polnische Grammatik, Helmut Buske Verlag 2007, 39,80€

Ich habe hier zwei Bücher aus dem Buskeverlag vorliegen. Vielleicht sollte ich die nicht so in einem Abwasch behandeln, aber: Ich hab’s eilig. Ich stehe hier am Flughafen von Skopje. Mein Flugzeug geht gleich. Wie diese drei Sätze auf albanisch heissen, weiss ich leider nicht. Dafür aber bietet mir das Lehrbuch der vereinheitlichten albanischen Schriftsprache sogenannte “Praktische Redewendungen” an wie z.B. “Ich habe sehr zarte Haut, rasier nicht gegen den Strich”, oder “Muss ich es vorwaschen [gegen Einlaufen]?” Ich finde die sind garnicht so praktisch. Auch die vorgeschlagene Gesprächseröffnung “Ich höre, dass du ein Glas kalte Milch trinken willst” werde ich mir in dieser Form glaub ich nicht zu eigen machen, da sag doch lieber garnichts.
Das besagte Albanischlehrbuch bietet, abgesehen von den besagten praktischen Redewendungen, je eine Wortliste, ein Lesestück, grammatische Erläuterungen und reichlich Übungen pro Lektion, sowie Konjugationstabellen, Übersetzungen der Lesestücke und Schlüssel zu den Übungen in Anhang. Pro Lektion wird ein oder mehrere grammatische Phänome neu eingeführt und dann entsprechend gepaukt; so reiht sich z.B. im Lesestück Nr. 23 (”Hochzeit in Shkodra”) ein Trinkspruch an den anderen, damit dann auch ja der Optativ sitzt. Das alles ist ein wenig altbacken und hat wenig von den didaktischen Neuansätzen die viele andere Sprachlehrwerke aus dem Hause Buske auszeichnen. Grund dafür mag die Tatsache sein, dass es sich hier lediglich um eine Neubearbeitung eines im Jahre 1978 zum ersten Mal erschienen Lehrbuchs handelt. Die Neubearbeitung zeichnet sich “erstens durch die Berücksichtigung der inzwischen eingetretenen gesellschaftlich-politischen Veränderungen, zweitens durch die Umstellung auf neue deutsche Rechtschreibung, […] drittens durch eine deutliche Kürzung” und viertens durch stylisches Layout aus, aber eindeutig nicht durch frische didaktische Ansätze. Auch die Siebzigerjahredidaktik wird nur unvollständig ausgeschöpft: so hätte z.B. ein grammatisches Sachregister und ein alphabetisches Vokabelverzeichnis den Gebrauchswert des Lehrbuches deutlich gesteigert. Die unentschlossene Herangehensweise, die klassische, morphologiefixierte grammatische Ansätze mit sprachführerhaften Redewendungslisten zu kombinieren sucht, ist auch nicht dat gelbe vom Ei. Trotz alledem glaube ich, dieses Lehrbuch ist das beste auf dem deutschsprachigen Markt erhältliche, und wenn sich nicht Buske selber entschließt, irgendwann mal statt einer weiteren Neubearbeitung ein ganz neu konzipertes Albanischlehrbuch auf den Markt zu bringen, wird es wohl vorerst auch das beste bleiben, und sei es nur aufgrund mangelhafter Konkurrenz.

Eine Nebenbemerkung gestatte ich mir noch: Aufmerksame Leser des napfes mögen sich erinnern, dass mein lieber Sigi vor einiger Zeit hier anlässlich der Besprechung einer Baskischgrammatik aus dem Hause Buske eine Kannonade über den Unsinn von Sätzen wie: “Die baskische Sprache ist eine der ältesten Sprachen Europas” – dem ersten Satz jener Grammatik – losgelassen hat. Und was muss ich jetzt auf S. 179 von Buskes Albanischlehrbuch lesen: “Shqipija është një nga gjuhët më të lashta të Evropës. – Das Albanische ist eine der ältesten Sprachen Europas.” Vielleicht beliebt es ja dem Helmut Buske Verlag uns gelegentlich mitzuteilen, welche europäische Sprache denn nicht eine der ältesten Europas ist?

Was ganz anderes ist jetzt aber die Polnische Grammatik aus dem selben Verlagshaus. Das ist doch mal wieder ein Meisterwerk aus einem Guss. Wegen sowas halten wir ja so große Stücke auf den Buskeverlag. In punkto Umfang und Vollständigkeit ist diese Grammatik nicht zu überbieten, selbst auf dem polnischen Buchmarkt wird es schwerfallen etwas Vergleichbares zu finden. Die Präzision der Beschreibungen und Erklärungen ist beeindruckend, dabei aber nie komplizierter als nötig. Eine hervorragende Idee ist das zweisprachige erklärende Glossar sprachwissenschaftlicher Termini im Anhang, das dem Leser nicht nur erläutert was genau z.B. ein nichtmotiviertes Wort ist (nämlich nicht, was Sie jetzt gerade denken), sondern auch, dass sowas auf polnisch wyraz niemotywowany heisst. Das ist doch töffte, denn in den exotische Fällen, in denen selbst diese hochdetailierte Grammatik nicht mehr weiterhilft, können, wenn überhaupt, höchstens noch Muttersprachler Rat geben, aber eben auch nur dann, wenn man weiss wie das auf polnisch alles heisst. Verbesserungsfähig wäre unter Umständen noch das Register, wo zwar fast alles drinsteht, aber gelegentlich schwer zu finden ist, weil aus irgendeinem Grunde z.B. “Genitivattribut” nicht unter “G” zu finden ist, sondern unter “S” wie “Satzglied”. Das hätte man ja auch anders machen können.

“Nein, ich will nicht! Gebt mir Freiheit!”

Fernando Pessoa: Álvaro de Campos, Poesia – Poesie, Ammann Verlag 2007, €69,90
Fernando Pessoa war ein großer Dichter. Darüber hinaus war er auch ein Erfinder von großen Dichtern. Für sowas hab ich ja Verständnis. Álvaro de Campos “soll leicht gebückt gegangen sein, trug ein Monokel und war mit 1,75 Meter »zwei Zentimeter größer als ich«, bemerkt Pessoa zu seinem erfundenen Dichter.” So hat denn Herr Pessoa zunächst Herrn de Campos erdichtet, letzterer daraufhin dichtete gegen die gesellschaftliche Vereinnahmung, gegen die Entfremdung und vor allem gegen den Verlust der Freiheit an:

Ah, tenho uma sede sã. Dêem-me a liberdade!
Ah, ich habe einen gesunden Durst. Gebt mir die Freiheit!
(A liberdade, sim, a liberdade!/Die Freiheit, ja, die Freiheit!)

Nun tritt uns in der vorliegende zweisprachigen Ausgabe neben Pessoa und de Campos noch Inés Koebel als dritte im Bunde entgegen; und der des Portugisischen nicht mächtige Leser wird dankbar sein, denn Frau Koebels Nachdichtungen sind in doppelter Weise einfühlsam, sowohl gegenüber dem mehrfaltigen Dichter, als auch dem möglicherweise zunächst recht ratlosen Leser. Man spührt geradezu mit jeder Seite, wie de Campos almählich vom Phantom zum Dichter wird. Erfunden oder nicht, die Gefühle sind wirklich, so sehr, dass man dem erdichteten Dichter, der “lange von Portugal getrennt ist, [dessen] Seele sich aber von seinem Land nicht trennen kann”, das Heimweh nachfühlt.
Der Band ist mit der für den Ammann Verlag typischen Sorgfalt herausgegeben und durchaus dieses Klassikers der Moderne würdig.

Die Freiheit, ja, die Freiheit!
Die wahre Freiheit![…]
Was ist geworden aus dem, der ich gewesen sein muß?
Und außer diesem Verlangen nach Freiheit und Gutem und Luft, was ist geworden aus mir?
(A liberdade, sim, a liberdade!)

“… da man auch ohne Ahnung ganze Bücher schreiben kann …”

Ist es nun eine verlegerische Kapitulation oder ein raffinierter ökonomischer Schachzug, fernsehbekannte Scherzkekse als Autoren zu binden? Wahrscheinlich beides. Besonders befremdlich ist es dabei allerdings, die so zustandegekommenen Büchlein tatsächlich mit der Aufschrift Sachbuch zu versehen. Dabei hat der Rowohltverlag vor Zeiten echte Sachbücher herausgegeben, z. B. rowohlts deutsche enzyklopädie, die im Untertitel angab, ihr Anliegen sei es, das Wissen des 20. Jahrhunderts im Taschenbuch mit enzyklopädischem Stichwort vorzustellen. Herausgegeben und verfasst von akademisch ausgewiesenen Fachleuten. Und jetzt rororo-Sachbücher von Dieter Nuhr, Bernhard Hoëcker oder Wigald Boning. Auch eine Aussage zum eigenen Anspruch und zu dem, was man dem Publikum zutraut. Aber meinetwegen, mag man sich denken, wenn der Fernsehkasper Erhellendes zu sagen hat, laß ihn halt. Und dann wirft man einen Blick auf das, was – und das ist noch weit bedauerlicher als die Verfasserschaft – als Sachbuchthema durchgehen soll. Wenn man ein Sachbuchprogramm betreibt – so stellt man sich das als Laie vor – hat man ein Thema, von dem man meint, es wäre reif, monographisch behandelt zu werden und sucht sich dann einen ausgewiesenen Fachmann, der etwas Qualifiziertes dazu zu sagen hat. Hier scheint eher der Wunsch bestanden zu haben, einen bekannten Namen auf dem Titel stehen zu haben – unabhängig davon, ob der Betreffende irgendetwas auch nur annähernd Substantielles zu sagen hat. Wozu auch immer. Das hat dann auch nichts mehr mit popular science zu tun, sondern nur noch mit dem Wunsch, mit der Popularität Geld zu verdienen, bevor sie sich wieder verflüchtigt haben wird.
So darf sich dann Bernhard Hoëcker geschlagene 300 Seiten lang über eine Trendidiotie verbreiten, die auf den Namen Geocaching hören würde, würde sie nur jemand rufen. Und während ich jetzt in dem dabei herausgekommenen Opus herumblättere um mich zu erinnern, warum ich alles darin Geschriebene unmittelbar nach der Lektüre – in Einzelfällen gar vor der Lektüre – wieder vergessen habe, fällt mir das von mir als Lesezeichen verwendete Blatt Klopapier in die Hände, das einerseits etwas über den geeigneten Lektüreort aussagt und das andererseits eine ähnlich gehaltvolle Lektüre geboten hätte. (Bernhard Hoëcker, Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers, rororo, 2007, 9,90 €)
Wigald Boning wird bei Rowohlt schon als Autor der Bücher zur Fernsehsendung ‘clever’ geführt (feilgeboten unter der Überschrift Die fröhliche Wissenschaft – Edutainment für Jung und Alt) und darf sich nun ebenfalls zu einem recht aufsehenentbehrenden Thema verbreiten (Bekenntnisse eines Nachtsportlers, rororo, 2007, 8,90 €). Auch dies will am besten in gekachelten Räumen wahrgenommen werden. Im Gegensatz zu Hoëcker allerdings kann Boning so schreiben, daß man nicht in vorauseilender Langeweile die Toilettenbesuche auf ein hart an der Grenze zur Gesundheitsgefährdung vorbeischrammendes Mindestmaß reduziert.

Irgendwas ist immer

Die Entscheidung der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, die Berichterstattung von der Tour de France einzustellen, wird breit diskutiert; das beherrschende Paradigma orientiert sich dabei zumeist an der Frage, ob und wie der Radsport noch zu retten sei – mit ähnlichem Impetus wird dann konsequenterweise auch gefordert, T-Mobile möge sein finanzielles Engagement doch bitte nach diesem neuerlichen ‘Doping-Skandal’ auch mal endlich drangeben. Dieser aufgeregte Aktionismus ist unter zwei Gesichtspunkten zu kritisieren.
Zum einen ist der moralisierenden Argumentation von ARD und ZDF der selbstgestellte Anspruch entgegenzuhalten, der eben erst in letzter Zeit die Dopingfreiheit zum höchsten und schützenswertesten Gut der Berichterstattung erhoben hat, der aber bis mindestens zum vorletzten Jahr regelmäßig und mit wachsender Begeisterung den ein Jahr lang hochgejubelten Toursieger von 1997 für seine mangelhafte Bergfahrtechnik, seine mangelhafte Vorbereitung, seinen mangelnden Willen und sein wiederholtes Verpassen des Toursiegs mit nicht enden wollenden Farbenreichtum kritisiert hat – weil eben der zweite (oder, weiß Gott, gar der dritte oder vierte) Platz nicht etwa ein zu lobender Erfolg, sondern eine Niederlage sei. Über den Umfang der Berichterstattung über andere, in den meisten Fällen – man denke dabei auch an die Aufmerksamkeitsverteilung zwischen Jan Ullrich (4.) und Andreas Klöden (2.) am Tourende 2004 – weniger erfolgreiche Fahrer ist damit noch nichts gesagt. Es ist doch so: wenn ich als Radfahrer von einer Medienöffentlichkeit wahrgenommen werden will, die nur Rekorde wahrnimmt, dann sorge ich halt dafür, daß ich die gewünschten Rekorde liefern kann. Natürlich bin ich als Fahrer damit nicht entlastet – schließlich habe ich ein regelwidriges Präparat zu mir genommen; ich habe damit aber gleichzeitig bewiesen, daß ich das System, nach dem Sportberichterstattung funktioniert, begriffen habe – und dieses System habe ich nicht alleine und auch nicht in erster Linie zu verantworten.
Zweitens und bedeutender ist aber eine andere Frage: was genau ist das eigentlich Verwerfliche am Doping? Die Frage ist dabei nicht so sehr, wem es nütze (cui bono), sondern vielmehr, wem es schade (cui malo). Zunächst schadet es dem Fahrer selbst gesundheitlich. Das ist bedauerlich, ist aber nur moralisch verwerflich, wenn es dem Fahrer von außen aufgezwungen wird; Selbstverstümmelung ist kein Straftatbestand. Es stellt sich außerdem die Frage, ob nicht Leistungssport an sich der Gesundheit eher ab- als zuträglich ist. Daneben übervorteilt ein gedopter Sportler nicht gedopte Konkurrenten, die damit ihrer Chancen auf einen ehrlich erworbenen Sieg verlustig gehen. Hier gibt es allerdings ebenfalls zahlreiche Unwägbarkeiten: ob überhaupt irgendein Teilnehmer der Tour de France nicht gedopt ist, entscheidet sich dem Augenschein nach weniger anhand der eingenommenen Substanzen allein, sondern nur in Kombination mit der Liste der verbotenen Mittel und dem ärztlich attestierten Gesundheitspass, der die medizinisch verabreichten Stoffe auflistet. Wenn die berühmten 80% der Tourteilnehmer Belastungsasthmatiker sind, wenn EPO durchaus medizinisch geboten sein könnte, weil ein Fahrer eine Nierenschwäche nachweist, dann ist die Frage nach dem Doping nur eine Frage nach der Dummheit, sich mit einem nicht verschriebenen Mittel erwischen zu lassen. Im Übrigen fängt die Ungleichheit der Mittel ja nicht erst bei der Einnahme leistungsfördernder Substanzen an: wenn eine Mannschaft, ein Einzelsportler oder wer auch immer über deutlich größere finanzielle Mittel verfügt als ein Konkurrent und sich damit in der Lage sieht, z. B. ein dreiwöchiges Höhentrainingslager durchzuführen, während der Konkurrent am Stausee vor der Haustür trainiert, sind gleiche Voraussetzungen, ist also Chancengleichheit eben auch nicht gewährleistet. Gleiches gilt, wenn ein finanzkräftiger Fußballverein Spieler nicht in erster Linie deshalb kauft, weil er sich von deren Können eine Bereicherung des eigenen Spiels verspricht, sondern weil diese Spieler dann der Konkurrenz nicht mehr zur Verfügung stehen.
All dies führt zu einer dritten Gruppe, die man als ‘Opfer’ des Dopings im Leistungssport ansehen könnte: die Zuschauer bzw. die Medienöffentlichkeit. Auf dieser Ebene haben ARD und ZDF den Verlautbarungen nach ihre Entscheidung getroffen, weil man ja den Zuschauern keinen Sport bieten könne, bei dem jedes Ergebnis auf Doping beruhe. Mit dieser Argumentation sitzen die Sender allerdings einem Mißverständnis über den Leistungssport an sich und die Berichterstattung darüber auf. Die Idee, Sport habe im Fernsehen einen tatsächlichen Nachrichtenwert, sei also quasi die realitätsgetreue Wiedergabe eines echten Kräftemessens, geht an der Realität vorbei. Wer sich vor zehn Jahren von der Tour hat unterhalten lassen, sich Ullrichposter ins Wohnzimmer gehängt hat, der sollte froh darüber sein, daß er damals eine gute Zeit gehabt hat. Kindheitserinnerungen an Weihnachtsfeste im Familienkreis werden auch nicht dadurch geschmälert, daß man später herausfindet, daß im Weihnachtsmannkostüm eigentlich Onkel Willi oder ein gemieteter Student steckte. Wer Sport im Fernsehen sieht, lässt sich unterhalten. Ob die Leute, denen er beim Berge hinauf fahren zusieht, vorher Testosteronpflaster an der Backe kleben hatten oder nur reines Mineralwasser getrunken haben, macht dabei keinen substantiellen Unterschied – solange das was er sieht spannend ist und Stoff zur Unterhaltung bietet.
Und genau diese Unterhaltung streichen ARD und ZDF ihren Zuschauern. Das ist ihr gutes Recht. Das ganze aber als aufklärerische Maßnahme zur Reinerhaltung des öffentlich-rechtlichen Sendeauftrags zu verkaufen, ist albern. Zumal, wenn das Ersatzprogramm aus Sturm der Liebe und Tiergeschichten aus dem Tierpark Hellabrunn bzw. Die Schwarzwaldklinik und Tierisch Kölsch besteht.